Samstag, 11. Mai 2013

"Damit das Böse triumphieren kann, ist es nur notwendig, dass die Guten untätig bleiben."

Edmund Burke (1729-1797)

Mittwoch, 1. Mai 2013

Die vergessene Generation



Ein Stichwort, das heute anscheinend in aller Munde ist, lautet „Autismus“. Seit dem Kinofilm „Rain Man“ (der eigentlich nur bedingt etwas damit zu tun hatte) wird viel über das autistische Spektrum gesagt und geschrieben. Einiges davon ist sogar zutreffend.

Die Problematik als solche ist aber nicht neu. Bereits 1944 beschrieb der österreichische Kinderarzt Hans Asperger die  „Autistischen Psychopathen im Kindesalter“.  Diese Schrift geriet allerdings für lange Zeit in Vergessenheit. Erst in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde diese Thematik wiederentdeckt, aufgegriffen und die Forschung fortgesetzt. 

Das bedeutet aber keineswegs, dass es in der Zwischenzeit keine von dieser Symptomatik betroffenen Menschen gegeben hat! Das Fehlen eines Beweises ist kein Beweis für das Fehlen; das bedeutet in diesem Fall: nur weil in den fünfziger bis siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts niemand etwas von dieser Symptomatik wußte, heißt das nicht, dass es in dieser Zeit auch keine autistischen Kinder gab.

In der heutigen Zeit, in der diese Thematik ausführlich – und teilweise mehr, als es hilfreich wäre – veröffentlicht und jedermann zugänglich ist, werden Kinder und Jugendliche sehr viel intensiver beobachtet. Zum einen sind z.B. die Schulklassen viel kleiner als sie es früher einmal waren, zum anderen sind Betreuer, Lehrer, Pädagogen und auch Therapeuten besser geschult, so dass Auffälligkeiten jeder Form sehr viel schneller erkannt werden, als dies früher der Fall war. Außerdem muß man aber auch feststellen, dass es die Gesellschaft ist, die heute durch ständigen Anpassungs- und Leistungsdruck mehr vom einzelnen Individuum erwartet und in der „auffällige“ Personen schneller erkannt und unter Umständen ausgegrenzt werden. 

Es scheint also Fluch und Segen zugleich zu sein, wenn man das Glück  hatte, in der Zeit  - grob geschätzt  - ca. zwischen 1950 und 1970 geboren worden zu sein. Nicht nur für mich selbst kann ich dies behaupten, sondern ich habe auch im persönlichen Gespräch mit anderen Menschen bestätigt bekommen: Eine Kindheit in dieser Zeit war in mancher Hinsicht irgendwie  -  einfacher. Ungewöhnliche Verhaltensweisen wurden toleriert oder mit mehr oder weniger zutreffenden Spitznamen („Kleiner Professor“, „Stubenhocker“, „Leseratte“, Schlauberger“) abgetan. Im Schulunterricht war es noch einfacher, in der Gruppe unterzutauchen (40 Schüler in einer Klasse waren keine Seltenheit). Motorische Schwierigkeiten ergaben schlimmstenfalls eine schlechte Note im Sportunterricht.

So kannte man sich also mit etwas Glück durch die Kindheit hindurchschummeln, erreichte das Erwachsenenalter – und damit den Eintritt in die Arbeitswelt. Wenn man weiterhin Glück hatte, konnte man - nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ – seine in der Kindheit erworbenen Fähigkeiten nutzen und umsetzen. Der Umgang mit Arbeitskollegen und mit Vorgesetzten ähnelt in manchen Dingen durchaus ja der Rangordnung auf einem durchschnittlichen Spielplatz …

Wer weniger Glück hatte, fiel am Arbeitsplatz sofort unangenehm auf, weil der bisher geschützte Rahmen des Freundeskreises und des eigenen Elternhauses wegfiel. Besonderheiten, die bisher  als liebenswerte Schrullen belächelt wurden, sind nun plötzlich inakzeptabel. Probleme, den Blickontakt zu halten, werden als unhöflich bezeichnet. Der Wunsch, in der Mittagspause allein zu bleiben, stößt auf Unverständnis. Die Teilnahme an Geburtstags-  oder Weihnachtsfeiern wird zum Zwang ...  und vieles andere mehr.

Wer diesem psychologischen Druck nicht standhält, der wird früher oder später Hilfe bei einem Therapeuten suchen. Und hier schließt sich dann der Kreis: Da die Diagnosestellung  in den Kindheitsjahren nicht bekannt war, wird sie dem erwachsenen Patienten auch nicht mehr zuerkannt. Klare Richtlinie ist: Autismus wird bei Kindern und Jugendlichen diagnostiziert. Wer erwachsen ist und diese Diagnose nicht hat, der ist auch kein Autist. Punktum. –

Was aber ist mit dieser kleinen Gruppe von Betroffenen, die – wie gesagt – in einer Zeit heranwuchsen, in der diese Diagnose schlicht noch kein Thema war,  die nun aber in ein Alter kommen, in dem die persönlichen Probleme immer heftiger werden und der Leidensdruck des Einzelnen so stark wächst, dass er den Weg zum Therapeuten auf sich nimmt?

Dort angekommen, heißt es dann: „Autismus? Womöglich gar Asperger-Syndrom? – Nee.  Das gibt es nur für Kinder. Mal seh’n, was wir da sonst noch so haben. Wie wär’s mit Depressionen – das passt immer. Dann vielleicht noch soziale Phobie, Zwangsstörungen, repetetives Verhalten …?“  Selbst erworbenes Wissen des Patienten wird dabei erst recht nicht gern gesehen.

Es ist an der Zeit, dass sich jemand findet, der diese verlorene Gruppe von Patienten einmal richtig erforscht. Von einer „kleinen“ Gruppe kann  man dabei nicht einmal sprechen, denn die Dunkelziffer ist hoch. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht jemand durch Zufall  (oder durch den Hinweis eines wohlmeinenden Bekannten) auf das Stichwort stößt, danach googelt und sich sofort in der Thematik wiedererkennt. Nun ist dieses Wiedererkennen oft sehr emotional eingefärbt; auch Selbsttests im Internet sind nicht immer eindeutig. Hier sind gut geschulte Fachleute nötig, die dem Diagnoseverdacht zunächst einmal aufgeschlossen gegenüberstehen und diesen dann mit den richtigen Fragen und Untersuchungen bestätigen – oder ihn entkräften.  Wer aber schon im Erstgespräch die Worte hört „Autismus?! Aber Sie doch nicht. Sie können ja sprechen!“ , dem ist nicht wirklich geholfen.

Wenn – Falls - es also irgendwo da draußen junge, aufstrebende Mediziner gibt, die noch nach einem interessanten Wirkungsgebiet suchen: Hier ist es. Ansprechpartner finden sich zuhauf in jedem Internetforum zum Thema „Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter“.